Hier ist ein Satz, den man selten von einer Band hört, die offiziell bloß aus zwei Mitgliedern besteht: „Wir fühlen uns wie eine Stadionrockband.“

Normalerweise muss man für so einen Satz ein Ego mitbringen, das groß genug ist, um „Aida“ darauf aufführen zu können. Oder ein Selbstbewusstsein, das lange nicht mehr den Boden berührt hat. Am besten ist man gleich einer der beiden Oasis-Brüder, denn die haben bei der Angeberei schließlich die Flatrate gebucht. Es gibt aber auch musikalische Brüderpaare, die sich nicht gegenseitig wüst beschimpfen, öffentlich beleidigen oder Prügel androhen. Die, die auch nach täglich 12 Stunden im Proberaum noch an Musik denken und nicht an Mord. Die die Sätze des jeweils anderen beenden, weil sie seine Gedankenwelt wie ihre eigene kennen. Und die aus ihrer Zusammenarbeit eine Energie ziehen, die einfach nach einer großen Bühne schreit.

Der Satz mit der Stadionrockband fiel, als Sinplus im Vorprogramm von Roxette vor 10.000 Menschen aufgetreten und mit begeistertem Applaus bedacht worden sind. Die Schweden sind in etwa da, wo Sinplus auch hinwollen, und für eine Band, deren Vorbilder unter anderem U2, Muse, Coldplay, 30 Seconds To Mars und Imagine Dragons heißen (und die live dann auch zu viert auftreten), macht die Bemerkung Sinn. Von Locarno im Süden der Schweiz aus ist der Weg an die Spitze womöglich etwas weiter als von anderswo, aber die Gebrüder Broggini haben nicht nur bereits einige Kilometer hinter sich, sondern auch ein neues Album am Start, das durchgängig in Großbuchstaben geschrieben ist.

„Im Grunde sind wir eine Band, seit wir Kinder sind“, sagt Ivan über sich und seinen Bruder Gabriel. Musik als Familienangelegenheit. Die Mutter begeisterte sich für Bob Marley und erlebte den Meister tatsächlich noch live in concert. Der Vater hatte eine eigene Band samt Proberaum, den sich jetzt Sinplus unter den Nagel gerissen haben. Das Management hat die Schwester inne. „Bei vielen Rockmusikern heißt es: Ich gegen die Welt“, sagt Gabriel. „So gesehen sind wir schon mindestens zu zweit.“

Nicht nur zu zweit, sondern auch verdammt professionell. Studienaufenthalte in Vancouver und San Diego haben dafür gesorgt, dass beide ausgezeichnet Englisch sprechen, und Deutsch ist für die Brüder aus der italienischsprachigen Schweiz ebenfalls kein Problem. Wenn sie einmal kurz Wortfindungsschwierigkeiten haben, kommen dabei Adjektive wie „fantasiös“ heraus, die glücklicherweise mit am besten beschreiben, wie man sich den Sound von Sinplus vorstellen kann. Der wurde bei Studioaufenthalten in Los Angeles und London geschliffen und ist jetzt so weit, um auf die Frage „Wer oder was sind Sinplus?“ mit einem selbstbewussten „This Is What We Are“ zu antworten.

Für den Fall, dass gerade Stromausfall ist und sich die CD nicht abspielen lässt, kann man das natürlich auch schnell in Worte fassen.

Also: Sinplus machen Popmusik mit sehr großen, sehr schwärmerischen Melodien, die stilistisch über allem schweben, was die moderne Musiklandschaft so zu bieten hat. Schweben ist schon deshalb ein gutes Stichwort, weil sich ihre Songs immer wieder anfühlen, als sehe man sich die Wolken von oben an, während man den Wind unter seinen Flügeln spürt. Das Duo hat die verschiedensten Einflüsse aus Alternative Rock, Discopop und sogar Hip-Hop nach der Methode Learning By Doing kombiniert, um am Ende bei einem neuen Geschöpf zu landen, das ein sehr lebenshungriges Exemplar ist. Praktisch alle Songs des neuen Albums würden sich zum Soundtrack für den Fluchtwagen eignen, ohne dass man deswegen ein Verbrechen begehen muss (Es sei denn, die Verbreitung von Frohsinn steht irgendwo unter Strafe).

Ein gern gesehenes Thema ist deswegen auch der Freiheitsdrang, und zwar gleich auf verschiedenen Ebenen. „Wenn unsere Songs eine Botschaft haben, dann ist es: In dir wohnt eine Kraft – nutze sie!“, sagt Ivan. „Es ist gut, Träume zu haben“ oder „Sei du selbst und tu was du liebst!“ würden sich als Motto auch eignen, denn für Sinplus ist ein positives Lebensgefühl die Schlagader ihrer Musik. Dieses komische, ungewohnte Gefühl, das eingefleischte Indie-Rock-Fans und Freunde der Rockballade beim Hören bekommen? Das ist Optimismus. Oder wie es im Titelstück heißt: „We believe that everything is now.“

Das Instrumentarium, das den beiden Brüdern für diese Message zu Gebote steht, umfasst die meisten bekannten Instrumente des Planeten, favorisiert aber eindeutig die Gitarre. Das Solo aus dem Opener „Capisci“ trägt einen dermaßen sanft über die Schwelle, dass man ihm gerne noch ein Viertelstündchen länger zuhören würde. Das geht aber nicht, weil sich das Instrument nacheinander noch in The Edge („Feel Love“), die Red Hot Chili Peppers („WTF“) und Bob Marleys Geist („Kiss The Sky“) verwandeln muss. Und weil Classic Rock in den Ohren der beiden Brüder bereits ausgereizt ist, sind Songs wie „Crazy Life“ oder „Capisci“ zu Disco-Hybriden umfunktioniert worden, die Stillsitzen unmöglich machen. Für jeden einzelnen der selbst komponierten und selbst produzierten Songs gilt: Man mag das dazugehörige Genre nennen, wie man will, aber am besten setzt man sicherheitshalber jeweils noch ein „Power-“ davor.

„Wir wollen den Leuten die Inspiration geben, ihren Träumen zu folgen“, sagt Gabriel, und was wäre da besser als eine Musik zu spielen, die genug träumerische Melodien bietet, um eines Tages tatsächlich ein ganzes Stadion damit zu versorgen. Bis jetzt stehen bereits Auftritte in 15 verschiedenen Ländern, der Gewinn des des MTV Awards als „Best Swiss Act“ 2014 und ein augenzwinkernder ESC-Beitrag zu Buche. „Unbreakable“ machte vor vier Jahren in der Vorausscheidung genug Furore, um Ivan und Gabriel immer noch Fanpost aus Russland und Beweisfotos von Menschen einzubringen, die sich mit ihren Lyrics tätowiert haben.

In Zukunft wollen Sinplus vor allem mehr Konzerte geben, denn die Zuschauer zum Teil ihrer Show zu machen ist ein erklärtes Ziel. Idealerweise verlassen die ein Sinplus-Konzert in leicht schwindeligem Zustand, mit neu gewonnener Zuversicht und mit deutlich aufgebesserter Laune, denn die Songs auf „This Is What We Are“ sind für menschliche Wesen in etwa das, was ein Ladegerät für ein Mobiltelefon ist. Oder Benzin für einen Pyromanen. Die Stadionrockband, nach der sich Ivan und Gabriel jetzt schon fühlen, braucht zugegebenermaßen noch ein wenig Kulisse. Aber mit dem im Januar erscheinenden Album stellen Sinplus europaweit eine Platte in die Läden, die ihre Ambitionen eindrucksvoll untermauert. 2017 könnte ihr Jahr werden. Wenn das nicht fantasiös ist.

Quelle: Gordeon Music